Vorwärts, es geht zurück…

140 Seemeilen liegen am Montag, 10.06.19, von Cherbourg bis Boulogne-sur-Mer vor uns, eine mittlerweile für uns nicht mehr wirklich lange Distanz.

Die Wettervorhersage könnte zwar besser sein, aber an den Tagen vorher und nachher paßt die Windrichtung so gar nicht. Wir lösen die Leinen um 9.30 h, damit wir die Strömung möglichst lange für uns nutzen können. Vorher aber noch zur Tankstelle. Da gerade Niedrigwasser ist, muß der Tankschlauch erst einmal von der Zapfsäule einige Meter nach unten gelassen werden. Aufgetankt geht es dann in einen bewölkt bis regnerischen Tag.
Um 13.30 h passieren wir in geringer Entfernung die Stelle, an der uns bzw. Karl vor knapp einem Jahr bei einer Patenthalse der Baum gebrochen ist. Da waren Wind und Welle etwas rauer als heute. Der Wind kommt mit 2-4 Beaufort mal aus West, dreht ab und zu auf Nord, zurück auf Nordwest, dann wieder West… Für uns heißt das: Motor an, Motor aus, Motor an… Die Nacht ist ruhig, aber naßkalt, am nächsten Morgen zeigt sich der Sonnenaufgang inmitten dichter dunkler Wolken, die mit dem auf Süd gedrehten Wind über uns hinwegziehen. Imposantes Naturschauspiel.
Mittags kommen wir dann bei Sonnenschein in Boulogne-sur-Mer an und wie schon letztes Jahr sind in dem netten Hafen viele Plätze frei. Das ändert sich am nächsten Tag, als 15 Motorboote in den Hafen tuckern und die logistischen Fähigkeiten des Marinabüros gefordert sind.

Boulogne-sur-Mer ist uns vertraut, wir mögen die Hauptstadt der Cote d’Opal, in der gerne und viel gefeiert wird. Seit dem letzten Jahr ist es mit neuen farbenfrohen Hauswänden und bemalten Stromkästen noch ein wenig bunter geworden.

Längst befinden wir uns wieder im uns bekannten Revier „Englischer Kanal“. In vielen Urlauben sind wir hier Richtung Normandie, Bretagne, Kanalinseln oder England gesegelt. Daher wissen wir auch, wie wichtig es ist, das Zusammenspiel von Wind, Strömung, Gezeiten und Welle zu berücksichtigen. Je nach Windrichtung und -stärke entwickeln sich zudem an den Caps unangenehm hohe Wellen. Seglerischer Schneid sollte an anderen Orten ausgelebt werden. Und so umrunden wir auch bei unserer Fahrt von Boulogne-sur-mer Richtung Oostende am 13.06. das Cap Gris-Nez in zwar nicht riesigem, aber gebührendem Abstand. Mitlaufende Strömung und Südwest-Wind mit 5 Bft. schieben Karl bis Mittags mit über 7 Knoten durchs Wasser, da reicht uns die Genua. Zur Sonne gesellen sich jetzt auch Regen und ein schöner Regenbogen.

Um 16.00 h, wenige Seemeilen vor Oostende, dreht der Wind unvermittelt mit einer heftigen Böe von Südwest auf Nordost, so daß die Genua abrupt auf die andere Seite wechselt, wobei das Unterliek ein ganzes Stück einreißt. Wir hätten wohl nicht darüber sprechen sollen, dass die Genua bald das Zeitliche segnen wird. Ein klarer Fall von self-fulfilling prophecy. Eine Stunde später liegt Karl nach 65 Seemeilen zwar mit zerrissenem Hemd, aber ansonsten unversehrt im vollen Hafen von Oostende im Päckchen.

Schnell die Gastlandflagge wechseln und dann zischt das letzte portugiesische (Anleger)Bier…nein, die Reihenfolge war doch eher andersrum. Viele Segler/innen mögen weder die belgische Küste noch die belgischen Häfen. Mir geht es anders. Die Küste ist definitiv kein Hingucker, an manchen Stellen eher zum wegsehen. Aber wir mögen so manche Hafenstädte hier. Dazu zählt auch das 1944 bei einem Luftangriff zu großen Teilen zerstörte Oostende. Ein manchmal skuriller Gebäudemix, immer wieder Kunst, gerne auch draußen und groß dimensioniert, großer langer Strand… Empfehlenswert ist auch ein Besuch im Mu.Zee, dem Museum für moderne, überwiegend belgische Kunst.

Unser nächstes Ziel ist Texel. Nachdem wir die Genua gewechselt haben, werfen wir am 16.06.19 morgens Karls Leinen in Oostende los und machen uns bei Südwest-Wind auf den Weg. Und wieder heißt es auf den 134 Seemeilen Motor an, Motor aus. Gegen 20.00 h queren wir mit per Funk eingeholter Genehmigung das Fahrwasser bei Rotterdam und tauschen die belgische gegen die niederländische Gastlandflagge. Sie ist schon so zerfleddert, daß es uns fast peinlich ist und wir kurzerhand das zerfranste Ende abschneiden (mittlerweile präsentiert Karl natürlich eine schicke neue). Die folgende Nacht ist feucht und kalt. Der recht rege Schiffsverkehr, besonders aber die Fischerboote, benötigen ständige Aufmerksamkeit. Hans läßt mich lange schlafen, erst um 4.00 h morgens krabbelt er nach 7 Stunden durchgefroren in den Schlafsack. Beim Passieren des Eneco Luchterduinen Windparks auf der Höhe von Zandvoort fühlt sich unser Silentwind durch seine großen Freunde ganz beflügelt und ich komme in den Genuß eines wunderschönen Sonnenaufgangs. Nach so viel Schlaf mehr als verdient 😉 Um 9.00 h ändern wir im Süden Texels leicht den Kurs an der Einfahrt ins Schulpengat Richtung Marina Oudeschild. Eine Stunde später kommt die Wasserschutzpolizei (Zitat: „wegen der Flüchtlinge“) an Bord. Der nette Polizist bleibt in der Plicht, beläßt es bei einem Blick nach unten und läßt uns staunend zurück. Wir fragen uns, ob die Flüchtlinge nicht eher den Weg nach England suchen. Jedenfalls kontrolliert die Wasserschutzpolizei in den nächsten Stunden, während wir im Gegenstrom kaum vorwärtskommen, richtungsunabhängig jedes Segelboot. Um 14.00 h kommen wir am 17.06. in Oudeschild an; für die letzten 14 Meilen haben wir zwar fast 5 Stunden benötigt, bei strahlendem Sonnenschein aber auch keine Eile gehabt. Nervig allein die vielen kleinen schwarzen Fliegen, die sich träge plazieren und offenbar überhaupt keinen Fluchtreflex haben.

Texel ist nochmal Urlaub im Urlaub mit viel Sonne, Strand, Grün, Schafen und einer ausgedehnten Radtour über die Insel. Besonders gut gefällt uns in Oudeschild das Museum Kaap Skil (Museum zur Geschichte der Schifffahrt). Von außen beeindruckt schon die Holzfassade aus zersägtem Hartholz, das früher in dieser Region als Dammwand genutzt wurde. Dahinter verbergen sich die riesige Glasfassaden an der Vorder- und Rückseite des Gebäudes. Es ist nicht verwunderlich, dass diese Fassade auch internationale Bekanntheit hat. Hinter dem Museumgebäude u. a. mit gelungener Nachstellung der Reede von Texel befindet sich ein großes Außengelände mit Mühle und Nachstellungen des früheren Lebens hier. Von uns bekommt das Kaap Skil das Prädikat „wertvoll“ (übrigens auch für Kinder sehr unterhaltsam).
Auf Texel haben wir uns von unterwegs aus mit Heike und Tom verabredet, die kurz nach uns mit ihrer SY Mariana in Oudeschild anlegen. Tolle Stunden incl. Essen und karibischem Cocktail folgen. Schön war’s mit Euch.
Heike und Tom segeln am Donnerstag, 20.06.19, nachmittags weiter, abends kommen Wilhelm und Martin mit der SY Dana. Ein netter gemeinsamer Abend folgt, bevor wir uns am nächsten Tag um 7.40 h auf den Weg zu Karls Liegeplatz in Warns machen.

Wir wählen den Weg über Kornwerderzand, weil es für uns so mit der Strömung besser paßt. Die Lorenzsluis erreichen wir gegen 12.15 h und hier ist, wie oft an Wochenenden oder Brückentagen (wie heute), viel los. In der Schleuse verlieren wir kurz unseren (Holz)Bootshaken, den wir aber mit netter Unterstützung eines anderen Bootes wieder aus dem Wasser fischen können. Und dann hat das Ijsselmeer uns auch schon wieder. Noch einmal bei Stavoren durch die Johan Frisosluis. Während des Wartens auf die Schleusenöffnung begrüßt uns die Crew der SY Miss Peel, die auch Richtung Warns fährt. Wir freuen uns, Euch zwar nur kurz gesprochen zu haben, aber bald hoffentlich auch etwas „genauer“ kennenzulernen 🙂

Auf der anderen Schleusenseite stehen winkend meine Schwester Heike und Schwager Heinz, die uns dann in Warns noch einen herzlich warmen Empfang bereiten und mit denen wir bis Sonntag einige schöne Stunden verbringen. Samstagabend, 22.6., kommt noch Susanne vorbei, die im Juli mit ihrer SY Zora ihr einjähriges Sabbatical startet und einhand unterwegs sein wird. Sonntags laufen dann auch Wilhelm und Martin in Warns ein. Nach gemeinsamem Frühstück packen wir deren Autos voll und machen uns mit gemischten Gefühlen auf den Rückweg nach Essen.

Jetzt tasten wir uns langsam an unser neues altes oder altes neues Leben heran und sind gedanklich noch recht häufig an Bord bei Karl, der ein Jahr lang unser Zuhause war und uns so sicher über das Meer getragen hat.

Etwas abschließendes, ein Resumée, Fazit, persönliche Highlights…das wollen wir hier noch einmal gesondert schreiben, Hans für sich, ich für mich, manches gemeinsam. Vermutlich wird das aber diese Woche nix mehr 😉

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One comment to “Vorwärts, es geht zurück…”

  1. Eine schöne, erlebnisreiche Reise geht zu Ende. Wir hoffen, es ist nur eine vorläufiges Ende und eure Reise geht wieder einmal weiter. Bis es so weit ist wünschen wir euch ein gutes Ankommen zu Hause, „no stress“ und viel Spass bei dem, was ihr tut. Ganz liebe Grüsse, Pia und Köbi (SY Lupina)

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